Erste Studienergebnisse

Die Beobachtungswoche fand an vier Orten rund um die Hafentreppe in der Balduinstrasse unter Mitwirkung von 45 Stadtteilforscher*innen aus der Nachbarschaft an sieben Tagen statt. Insgesamt kamen 115 Beobachtungstunden zusammen. Die Beobachtungen wurden in einen standardisierten Dokumentationsbogen eingetragen. Im Ergebnis konnten 250 Maßnahmen festgestellt werden. Bemerkenswert war die sehr hohe Taktung an Polizeipräsenz. So wurde z.B. am Mittwoch, 21.09.21 im Beobachtungszeitraum durchschnittlich alle 12 Minuten eine Polizeistreife dokumentiert.

Die leitfadengestützten Anwohner*inneninterviews wurden transkribiert, aus dem Material heraus wurden Kategorien gebildet und das Material systematisiert und ausgewertet. Die Oberkategorien (OK) lauteten

  • Aussagen über Polizeipräsenz (UK: beobachtetes Polizeivorgehen, persönliche Erfahrungen)
  • Auswirkungen der Polizeipräsenz auf die Nachbar:innen (UK: materielle, soziale, emotionale Folgen)
  • Umgang mit der Polizeipräsenz (UK: widerständige Praktiken, Erwartungshaltungen, Kritik/Forderungen, Lösungen ohne Polizei).

In der Kategorie Aussagen über die Polizeipräsenz wird zum einen die Intensität der Polizeipräsenz problematisiert, die sich in der permanenten, unverhältnismäßig hohen Anzahl der Beamten ausdrückt. Thematisiert wurden auch Grenzüberschreitungen beim Polizeivorgehen, z.B. Hineinleuchten in Wohnungen und Blicke in die Fenster der Anwohner*innen. Die Befragten bestätigen die Dokumentationen der Beobachtungswoche in Bezug auf die Häufigkeit der Polizeipräsenz. Die als unangebracht empfundenen Kontrollen stoßen auf Unverständnis bei Nachbar*innen. Auf ihre solidarischen Interventionen, z.B. stehen bleiben oder Augenkontakt mit den Betroffenen halten, reagiert die Polizei teilweise mit Aggressionen und Platzverweisen. Neben den genannten juristischen Folgen werden in der Kategorie der Auswirkungen der Polizeipräsenz die emotionalen Folgen spezifiziert, die sich zwischen Einschüchterung, Frustration, Unruhe und auch Verunsicherung bewegen. Auch soziale Folgen werden thematisiert. Menschen ziehen sich zurück oder aus dem Stadtteil weg. Die Stigmatisierung des Stadtviertels führt zu eingeschränkten Kontakten. Kinder erleben ein durch Kontrollen geprägtes Aufwachsen, das zur (Selbst-)Kriminalisierung führen kann. In der Kategorie Umgangsweisen mit der Polizeipräsenz werden vielfältige Vorgehen sichtbar. Ein Instrument ist die Beschwerde, um durch den institutionellen Akt diskriminierendes Verhalten von Beamt*innen zu vermerken. Schließlich wird eine „unparteiische Stelle“ gefordert, wo sich die Anwohnenden melden können und die Forderung nach einem Rückzug der Polizei wird formuliert.

Im Rahmen der leitfadengestützten Gruppeninterviews wurde mit 23 Männern gesprochen, die rund um die Hafentreppe in St. Pauli Süd häufig von Kontrollen betroffen sind. Die meisten sind zwischen 20 und 25, einige bis zu 40 Jahren alt. Sie stammen aus verschiedenen afrikanischen Ländern und sind nach Hamburg geflüchtet, viele über Italien. Die meisten haben einen temporären, Aufenthaltsstatus über ein „Schengenvisum“, aber keine Arbeitserlaubnis für Deutschland. Manche haben eine Duldung, nach einem abgelehnten Asylantrag, sie haben unterschiedliche Bildungsabschlüsse und alle haben zuvor Berufserfahrung in verschiedenen Arbeitsbereichen gemacht.
Die Auswertungskategorien, die sich aus den Interviews ergaben, waren recht ähnlich zu den Einzelinterviews. Die Oberkategorien lauteten:

  • Aussagen über Polizeikontakte (UK: Kontrollformen, Zivilpolizei, Fallen gestellt bekommen, Rassismus)
  • Auswirkungen der Polizeikontrollen (UK: soziale und materielle Folgen, Strafen)
  • Selbstaussagen der Betroffenen (UK: Gefühle, Wünsche, Haltungen, persönliche Hintergründe)
  • Umgangsweisen/Widerständigkeit (UK: Kritik äußern, Unterstützung suchen, Unterstützung erhalten, Forderungen formulieren).

Die interviewten Personen unterscheiden sehr genau zwischen dem, was sie unter ‚normaler‘ Polizeiarbeit verstehen und was nicht. Besonders eindrücklich an den Ergebnissen ist, dass die Betroffenen schildern, sie würden ohne Anlass unabhängig von ihrem Verhalten überall und jederzeit kontrolliert werden. Auch wird immer wieder von teils offen rassistischen Äußerungen und gewaltvollem Handeln der Polizei berichtet. Kontakte zu Zivilpolizist*innen werden in allen Interviews erwähnt, einige beschreiben den Eindruck gezielt Fallen gestellt zu bekommen (z.B. durch vorgetäuschte Drogenkäufe).
Sie kritisieren, wie die Polizei mit ihnen, Schwarzen Migranten aus Afrika, umgeht, dass sie nicht gleichbehandelt werden, sondern in aller Öffentlichkeit vorgeführt, herabgewürdigt und rassistisch beleidigt werden.
Deshalb sprechen wir von Racist Profiling.

Was in allen Gesprächen hervorsticht und immer wieder erwähnt wird, sind Gefühle von Angst, Scham, Ausgeliefertsein, entwertet werden, Verzweiflung und Enttäuschung über Deutschland und Europa. Eine große Zahl der Befragten hat erwähnt, dass die rassistischen Kontrollen in St. Pauli sie sozial isolieren.
Schwarze Personen würden hier scheinbar für den Kontakt mit weißen Menschen bestraft. Als belastend benennen sie auch immer wieder die willkürliche Konfiszierung von Geld und Mobiltelefonen, die ja oft die einzige Kontaktmöglichkeit zu Familie und Freund*innen bedeuten. Die von Racist Profiling betroffenen Personen machten deutlich, wie wichtig es ist, dass sich andere Menschen gegen diese Praktiken einmischen, damit sie der Willkür der Polizei nicht völlig ausgeliefert sind.

Insgesamt ist den Interviews in Bezug auf das Rechtssystem ein Gefühl von Machtlosigkeit und Ungerechtigkeit zu entnehmen.
Viele Betroffene thematisierten Doppelstandards in den Bestrafungsmechanismen der Hamburger Polizei und Justiz.
Sie bestehen darauf, dass sie erst durch ihre Entrechtung dazu gebracht wurden, sich mit prekären Jobs wie u.a. dem Handel mit Marihuana und anderen illegalisierten Substanzen durchzuschlagen. Dies sei nicht ihr Wunsch. Auch das Ausmaß der psychischen Belastung und Schädigung durch Arrest und Haft wurde in den Interviews immer wieder angesprochen, insbesondere, wenn den Betroffenen nicht gesagt wird, für wie lange sie festgehalten werden und warum.
Ihr dominanter Wunsch ist der nach einer Arbeitserlaubnis. Sie suchen ferner nach Sicherheit und Fairness und kritisieren ein System, dass ihnen nicht das Recht zugesteht, sich niederzulassen, zu lernen und legal zu arbeiten und für sich und ihre Familien zu sorgen wie andere Menschen auch.
Letztlich fragen sie, warum sie kein Recht auf Glück haben.

Ansprechperson

Steffen Jörg (er/ihm)

Stadtteilarbeit (in Elternzeit)

Hein-Köllisch-Platz 11, 20359 Hamburg